Alexander Löser ist Gründer und Sprecher des Forschungszentrums Data Science an der Beuth Hochschule für Technik Berlin. Hier das Interview vom 05.02.2021 © auf der Plattform Lernende Systeme,
Viele Mittelständler zeigen sich noch zurückhaltend beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI). Ein erster Ansatzpunkt liegt in der Analyse der eigenen Wertschöpfungskette: Wo und wie kann KI als leistungsfähiges Rechenwerkzeug hier unterstützen? Wie mittelständische Unternehmen konkret von KI profitieren können, welche Prozessschritte dabei anstehen und warum die Einführung von KI die Bereitschaft zum Scheitern voraussetzt, erläutert Professor Dr. Alexander Löser im Interview. Er ist Gründer und Sprecher des Forschungszentrums Data Science an der Beuth-Hochschule für Technik Berlin und Mitglied der Arbeitsgruppe „Technologische Wegbereiter und Data Science“ der Plattform Lernende Systeme.
1. Herr Löser, viele Mittelständler haben noch Nachholbedarf in puncto Digitalisierung. Inwiefern ist KI bereits ein Thema für sie?
Alexander Löser: Das hängt ab von der Wertschöpfungskette, zu der ein Mittelständler beitragen möchte oder die er möglicherweise bereits in Teilen oder ganz kontrolliert. Spannend wird es immer dann, wenn ein KMU schon einen Teil der Wertschöpfungskette „besetzt“ hat und nach „links“ oder „rechts“ expandieren möchte. Ein Beispiel aus der Medizin: Krankenhäuser kontrollieren aktuell den Strom der Patientinnen und Patienten, sobald diese in der Notfallambulanz eintreffen. Doch warum erscheinen sie dort? Hier kommen die Anbieter von Apps oder Geräten ins Spiel, mit denen Menschen ihre Krankheitssymptome erheben. Die App rät ihnen, bei diesen oder jenen Symptomen, jetzt oder später, die Notfallambulanz aufzusuchen oder aber eine telemedizinische Beratung zu buchen. In anderen Ländern – mit weniger Regulatorik und für viele Menschen zu teuren Gesundheitsleistungen – kann die App auch dazu raten, „nur“ ein Medikament zu kaufen. Der Anbieter dieser App steuert somit Patientinnen und Patienten über die gesamte Wertschöpfungskette – von der Erhebung der Symptome über Diagnostik, Diagnose, Behandlung und Rehabilitation bis hin zur Lebensweise. Das kann dazu führen, dass „klassische“ medizinische Dienstleister Umsätze einbüßen bzw. dass bestimmte, beispielsweise lukrative Fälle umgelenkt werden – abhängig von der Marge, die der Anbieter der Gesundheits-App plant.
In Europa sollten wir KI-Technologien für derartige Anwendungen erforschen – idealerweise mit unseren starken deutschen Partnern im Gesundheitssystem – um auch in Zukunft ausreichend Souveränität aufzuweisen. Das Forschungszentrum Data Science an der Beuth Hochschule hat einen entsprechenden Use-Case für die europäische Cloud-Alternative GAIA-X vorgeschlagen: Die tiefe Patientenrepräsentation für die Differentialdiagnose. Interessierten Partnern stellen wir gern unsere Arbeiten im Clinical Deep Learning vor.
2. Produzierende Mittelständler verfügen im Betrieb über bislang ungenutzte Daten. Wie entstehen daraus wertschöpfende Datenprodukte und -Dienstleistungen?
Alexander Löser: Dafür gibt es zahlreiche gut erprobte Methoden und „Baukästen“, die wir selbst in der Beratung mit unseren Partnern anwenden. Einer der ersten Schritte ist die Analyse der Wertschöpfungskette und Identifikation von Worst-Case Szenarien, Pain Points und Kennzahlen (z.B. Umsatz, Wachstum, Kundenzufriedenheit), die für das Unternehmen zu optimieren sind. Auch der nächste Schritt hat noch nichts mit KI zu tun: Die Definition der Zielmärkte. Sprechen wir über hundert bis tausend Kunden für ein Datenprodukt oder eine Plattform – oder über hunderttausende? Handelt es sich um ein transaktionsbasiertes Geschäftsmodell oder müssen wir eine Community für eine Innovationsplattform und entsprechende Geschäftsmodelle aufbauen?
Erst nachdem klar ist, wo der genaue und möglichst skalierbare Nutzen für die Top-5 Datenprodukt-Ideen liegt, geht es an die technische Umsetzung: Welches sind die Kern-Businessobjekte, die wir in einem KI-System repräsentieren sollten? Dann sollten wir beginnen, den Nutzen in der Wertschöpfung in maximierbare Nutzenfunktionen zu übersetzen. So ließen sich etwa in dem eingangs genannten Beispiel Patientinnen und Patienten (und deren Symptome) zu Krankheiten und möglichen Dringlichkeiten abbilden. Oft läuft das auf eine Klassifikation heraus, deren Inputvariablen die Business-Objekte sind. Andere Methoden sind Zeitreihenanalysen, Clustering oder sogar Multi-Task Learning. Die Stärke der KI liegt in der kombinatorischen Power – also der Fähigkeit, auf smarte Weise die Wahrscheinlichkeit für die besten Matches schnell zu berechnen. Ein anderer Trick ist, die oft unvollständige Repräsentation zu stärken. Und schließlich sind Feedback-Schleifen zu berücksichtigen – unser Modell soll ja kontinuierlich besser werden.
3. Welche Herausforderungen stellen für KMU bei der Einführung von KI – und wie können sie diese angehen?
Alexander Löser: Die Herausforderungen sind ähnlich wie bei vielen anderen Projekten: Datenprodukte sind risikoreich. Wir wissen oft erst, wenn die Trainingsdaten vorliegen, ob ein Kundenwunsch machbar ist. Daher benötigt die KI-Einführung Geld, Talent und Zeit – für das erste Datenprodukt etwa zwölf Monate, wenn noch keine Erfahrung vorliegt. Außerdem braucht es die Bereitschaft zum Scheitern und Weitermachen sowie Unterstützung und Vertrauen vom Top-Management. Für viele deutsche Unternehmen ist das eher ein Marathon als ein Sprint. Viele trauen sich das auch nicht zu oder sehen gar nicht die Ansatzpunkte. Andere haben diese zwar auf dem Radar, vertrauen aber auf ihre gut laufenden Vertriebs- und Produktionsprozesse und sehen daher keinen Bedarf für größere sieben- oder sogar achtstellige Investitionen.
Das Forschungszentrum Data Science an der Beuth Hochschule in Berlin arbeitet in dem vom BMWi geförderten Projekt Servicemeister mit einem Portfolio an für Deutschland typischen Unternehmen (z.B. Krohne, Würth, Atlas Copco, Trumpf, KEB), die alle genannten Mechanismen und Wertschöpfungsketten mit KI sehr gut verstehen. Die wahrscheinlich größte Herausforderung liegt darin, Datenprodukte für kleinere und mittlere B2B-Märkte zu produzieren. In puncto Organisation erfordert dies ein smartes Vorgehen beim Data Engineering und möglichst geringe Abhängigkeiten zu existierenden IoT-Plattformen, die an der Preisschraube drehen könnten. Technologisch interessant sind hier Ansätze, bei denen der Entwicklungsprozess eines KI-Modells weitgehend durch KI-basierte Maschinen durchgeführt führt – und ohne teure menschliche Data Engineers auskommt.
Der Transfer in die Unternehmen ist bei KI – neben der Grundlagenforschung – ein ganz entscheidendes Thema. Gerade diese Dualität benötigen wir noch mehr in Deutschland. Ich würde mir daher sehr wünschen, dass neben den Universitäten auch besonders forschungsstarke Fachhochschulen von den Mitteln an die KI-Zentren profitieren können, die aktuell in Grundlagenforschung und Transfer von KI hervorragendes leisten.
Mehr Informationen zum Thema KI für den Mittelstand finden sich auf der Website www.ki-und-kmu.de der Plattform Lernende Systeme.