Von Nils Klute, IT-Fachredakteur und Projektmanager Kommunikation Cloud Services bei EuroCloud Deutschland_eco e.V.
Normen und Standards schöpfen die Chancen der Industrie 4.0 aus. Wie sich neue Erlösquellen über Service-basierte Geschäftsmodelle erschließen lassen. Und warum digitale Zwillinge noch hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. Antworten lieferten jetzt die Expert:innen auf dem Treffen der assoziierten Partner:innen von Service-Meister.
Ob in der Automobil- oder Medizintechnik – Maschinen und Roboter von HEKUMA[1] sind überall gefragt, wo Fabriken Kunststoffe automatisch und in Hochgeschwindigkeit verarbeiten[2] möchten. Pro Jahr fertigt der Mittelständler rund 30 Anlagen, die allesamt individuell und spezifisch auf den Bedarf der jeweiligen Kund:innen angepasst sind. „Unsere Sondermaschinen bauen wir in Losgröße 1“, sagte Dr. Christoph Legat, der als Head of Digital Transformation Projects die Digitalisierung bei HEKUMA verantwortet und den assoziierten Partner:innen von Service-Meister[3] am 16. Juni von seinen Erfahrungen berichtete. Dr. Legat: „Um derart variantenreich wirtschaftlich produzieren zu können, arbeiten wir mit Standards.“
Komplexität über Normen reduzieren
Von Sensoren und Schaltschränken über Steuer- und Sicherheitstechnik bis hin zu Antrieben und Kameras – die Anlagenbauerin aus Hallbergmoos arbeitet mit einem großen Ökosystem an Zulieferer:innen zusammen, um die unterschiedlichen Anforderungen der produzierenden Unternehmen zu bedienen. „Um die Komplexität in den Griff zu bekommen, sind Normen unerlässlich“, sagte Dr. Legat. „Nur so sind wir in der Lage, alle Komponenten zu integrieren und die Schnittstellen zu managen.“ Was die Sache dabei erleichtert: Ein großer Teil des Partnernetzwerks arbeitet bereits ebenfalls mit international anerkannten und verfügbaren Normen.
Neue Erlösquellen im Mittelstand erschließen
„Standards sind ein wesentlicher Baustein für Wertschöpfung in der Industrie 4.0“, sagte Dr. Legat. Beispiel Anlagenservice: Wer die jeweiligen technologischen Komponenten unterschiedlicher Hersteller:innen über Standards integrieren möchte, um ihren Lebenszyklus zu überwachen, ist darauf angewiesen, dass Anlagen mit einer Stimme sprechen. „Setzen Daten, Formate und die Dokumentation auf Standards auf, lassen sich die Informationen auch vom Industrieservice direkt weiterverarbeiten“, sagte Dr. Legat. Was Anlagen verfügbar und Fabriken produktiv hält, erschließt zudem neue Erlösquellen über Service-basierte Geschäftsmodelle[4] im Mittelstand.
Neue Anwendungen über hersteller- und branchenneutrale Normen
Daten firmenübergreifend austauschen, um nicht nur mehr Werte im Industrieservice zu schöpfen: „Datenbasierte Geschäftsmodelle[5] entstehen überall in der Produktion, indem die Industrie 4.0 alle Assets über standardisierte Datenformate mit semantischen Merkmalen verbindet“, sagte Nahid Jui Pervin, Senior Projektmanagerin beim Standardization Council Industrie 4.0[6] (SCI4.0). „Auf Basis hersteller- und branchenneutraler Normen florieren neue Anwendungen[7].“ Um diese Entwicklung zu forcieren, initiiert das SCI4.0 beispielsweise sektorübergreifende Standards oder koordiniert nationale und internationale Normen.
Verwaltungsschale realisiert digitalen Zwilling
Vom einzelnen Rohstoff über die fertige Komponente bis hin zum recycelten Produkt – cyberphysische Systeme müssen Daten entlang des gesamten Lebenszyklus austauschen können. So entstehen Vorteile von der Konstruktion, Planung über die Produktion bis hin zum Service und der Instanthaltung. „Herstellungsprozesse lassen sich optimieren, die Erzeugnisse selbst verbessern und ihre Lebensdauer steigern[8]“, sagte Pervin: „Standardisierte Austauschformate sorgen für Interoperabilität.“ Beispiel Verwaltungsschale[9]: Diese steht als Referenz bereit, um alle Assets der Industrie 4.0 standardisiert zu beschreiben. „Die Verwaltungsschale ist ein technologisch neutrales Informationsmodell mit semantischen Merkmalen“, sagte Pervin. „Sie macht den digitalen Zwilling[10] real.“
Verwaltungsschale prädestiniert für alle Serviceprozesse
Egal, ob Handbücher, einzelne Sensorwerte oder Echtzeitdatenströme – die Verwaltungsschale liefert ein verbindliches und neutrales (Meta-)Modell, um Informationen erfassen, dokumentieren, austauschen und auch mit künstlicher Intelligenz (KI) verarbeiten zu können. Je nach Use Case stellt sie Daten in Teilmodellen etwa für das Maschinendesign oder die Wartung bereit. „Anwender:innen tauschen nur die Daten aus, die sie austauschen möchten. Und das, ohne diese erst adaptieren oder auf andere Formate oder Modelle abbilden zu müssen“, sagte Pervin: „Informationen lassen sich eindeutig aufeinander beziehen.“ Nicht anders bei Service-Meister: Um KMU und Mittelstand mit KI im Service voranzubringen, bedarf es standardisierter Schnittstellen für den Informationsaustausch, um Daten aus den Maschinen der Anwender:innenunternehmen für die intelligente Wartung zu nutzen. Pervin: „Die Verwaltungsschale ist prädestiniert für den Industrieservice.“
Demonstratoren und Testbeds bringen Mittelstand und KMU auf den Geschmack
Wie sich die Firmen auf den Geschmack bringen lassen: „Beispielsweise über Demonstratoren und Testbeds“, sagte Anja Simon vom Labs Network Industrie 4.0 (LNI). Der gemeinnützige Verein vernetzt seit 2017 Prüfstande und Labore, in denen Unternehmen ihre Use Cases und Konzepte ausprobieren, prüfen und validieren können. „Wir stellen unsere Testumgebungen vorwettbewerblich bereit“, sagte Simon: „Auch für die Verwaltungsschale gibt es Simulatoren und Demonstratoren.“
Digitale Zwillinge über einheitliche und übergreifende Modelle realisieren
Proprietäre Schnittstellen, uneindeutige Semantiken und uneinheitliche Formate: „Aktuelle digitale Zwillinge bleiben noch hinter ihren Möglichkeiten zurück“, sagte Daniel Kemp, der im Mittelstand-Digital Zentrum Hannover das LNI-Testbed für die Verwaltungsschale betreut. „Unser geplanter Demonstrator wird dagegen zeigen, welche Vorteile entstehen, wenn Produktionsbetriebe digitale Zwillinge über ein einheitliches und übergreifendes Metamodell implementieren.“ Physische und nicht-physische Assets lassen sich eindeutig identifizieren und interoperabel übergreifend verbinden. Denn: „Digitalisierung macht nur Sinn, wenn sie nicht nur die Prozesse eines Unternehmens, sondern das gesamte Wertschöpfungsnetzwerk erfasst[11]“, sagte Dr. Legat: „Am Ende müssen wir außerdem die Menschen in die digitale Produktionswelt integrieren. Auch diese Schnittstelle will über Standards gemanagt und gesteuert sein.“
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